15.10. Teresa von Avila: Das Gleichnis von Schmetterling

Teresa von Avila: Das Gleichnis vom Schmetterling

Die Seidenraupen werden mit Maulbeerblättern aufgezogen, bis man ihnen später, wenn sie groß sind, Zweiglein hinlegt. Und dann spinnen sie aus sich selbst mit ihren Mäulchen die Seide und machen sich ganz enge winzige Hüllen, in die sie sich einschließen. Die Raupe aber, groß und hässlich, verendet, während aus eben dieser Hülle ein winziger, sehr anmutiger, weißer Schmetterling ausschlüpft. Wenn man das nicht sähe, sondern man uns es als etwas aus grauer Vorzeit erzählte, wer könnte es dann glauben?

Doch kehren wir zu dem zurück, was ich gerade sagte. Dieser Wurm beginnt zu leben, sobald er in der Wärme des Heiligen Geistes die allgemeinen Gnadenhilfe, die Gott uns allen schenkt, und dazu noch die Hilfsmittel zu nutzen beginnt, die er in seiner Kirche hinterlassen hat, etwa die regelmäßige Beichte, beständige gute Lektüre und Predigten; das ist die Abhilfe, die einer durch Sorglosigkeit und Sünden erstorbenen und schlechten Gelegenheiten ausgesetzten Seele zur Verfügung steht. Damit beginnt sie zu leben und davon wie auch von guten Meditationen nährt sie sich allmählich, bis sie herangewachsen ist.

Sobald nun diese Raupe ausgewachsen ist, beginnt sie die Seide hervorzubringen und das Haus zu bauen. Dieses Haus aber – so möchte ich hier klarmachen – ist Christus. Ich meine, irgendwo gelesen oder gehört zu haben, dass unser Leben in Christus oder in Gott verborgen sei, beziehungsweise dass Christus unser Leben sei.

Hier seht ihr also, Töchter, was wir mit Gottes Hilfe vermögen: dass nämlich Seine Majestät selbst unsere, von uns angefertigte Wohnung wird, wie er es in diesem Gebet der Einung ist.

Sehen wir nun, was aus dieser Raupe wird. Wenn sie in diesem Gebet der Gotteinung weilt, ist sie für die Welt ganz gestorben, und dann schlüpft ein winziger weißer Schmetterling aus. O Größe Gottes! Und als welche tritt eine Seele daraus hervor, wenn sie auch nur ganz kurz in Gottes Größe hineinversetzt und so eng mit ihm verbunden war! Ich sage euch in Wahrheit, dass die Seele sich selbst nicht wiedererkennt.

Teresa von Avila, Die Innere Burg 5. Wohnung, 2. Kapitel

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